Audiothek

Der Wiener auf dem Lande

17. Mai 1903 · Wiener Allgemeine Zeitung
Stefan Franke

Gelesen von Stefan Franke

Am 6. Juli vorigen Jahres unternahm der Gemischtwarenverschleißer Mathias Böck mit seinem Stiefsohne Leopold Schrammel einen Ausflug nach Rauchenwarth, Bezirk Schwechat, um seinen Bruder zu besuchen. Als sie sich gegen Mitternacht auf den Heimweg machten, sahen sie auf der Straße zwei Männer miteinander raufen. Der eine der Raufenden zog eben ein Messer, weshalb Leopold Schrammel mit seinem Regenschirm einen Hieb nach der Hand dieses Mannes führte.

Nun kehrte sich die allgemeine Erbitterung gegen die Wiener, die sich in den Streit der Ortsburschen gemengt hatten. Mit Stöcken und Holzstücken ging man auf sie los, und eine ältere Frau rief den jungen Leuten zu: „Was mischen sich die Wiener d’rein, haut’s das Wiener Gesindel nieder!“ Mathias Böck erhielt gleich darauf einen Schlag auf das linke Auge, das sofort zu schmerzen begann und heftig anschwoll.

Die Folgen des Schlages waren der Verlust dieses Auges und eine bleibende Schwächung des Sehvermögens, also eine schwere, mit einer auffallenden Verunstaltung verbundene Verletzung. Die Erhebungen führten zu dem Resultate, dass der 23-jährige Wirtschaftsbesitzerssohn Leopold Kappf den Schlag gegen Böck geführt und seine Stiefmutter Magdalena Weninger die Rauchenwarter Burschen durch Zurufe gegen die Wiener aufgehetzt haben soll.

Leopold Kappf hat sich deshalb heute vor dem Schwurgerichte unter Vorsitz des Landesgerichtsrates Dr. von Holland wegen schwerer Körperverletzung, Frau Weninger wegen Anstiften und Anraten zu diesem Verbrechen zu verantworten. Beide Angeklagten erklären sich nicht schuldig. Leopold Kappf gibt an, er habe mit dem jungen Mönixbauer gerauft und wurde dann von einigen Kollegen weggeführt, damit der Streit ein Ende finde. Er habe dann von der Entfernung zugesehen, wie die anderen gegen die Wiener losschlugen, er selbst habe sich an dieser Rauferei nicht mehr beteiligt. Frau Weninger sagte, sie sei in der Nacht auf die Straße gegangen, weil man ihr mitteilte, dass ihr Stiefsohn mit dem Mönixbauer raufe. Sie habe sich bemüht, den Leopold nach Hause zu bringen, um den Streit der Ortsburschen mit den Wienern habe sie sich nicht gekümmert und hatte auch keinen Anlass, gegen Böck und Schrammel zu hetzen.