Audiothek

Sträfliche Neugier

23. Juli 1911 · Wiener Hausfrau
Stefan Franke

Gelesen von Stefan Franke

Man sagt den Frauen nach, dass sie neugierig seien und sich allzu sehr für die Angelegenheiten ihrer Mitmenschen interessieren; in vielen Fällen trifft das zu, wenn auch nicht nur bei den Frauen, sondern genauso gut bei den Männern, die sich oft genug auch vortrefflich auf Aushorchen und Ausfragen, Klatsch und Tratsch verstehen. Im Allgemeinen nimmt man an, und mit Recht, dass diese Eigenschaften ein Zeichen recht geringer Bildung und eigener, innerer Leere seien, man brüstet sich vielleicht damit, dass bei „gebildeten Leuten“, unter die man sich selbstverständlich selber rechnet, so etwas nicht vorkäme. Aber weit gefehlt!

Ich weiß nicht, ob’s in anderen Städten auch so ist; jedenfalls ist in Wien gerade unter den besseren Ständen eine Art von Spionage gar nicht so selten, die nicht scharf genug gerügt werden kann, und die ich öfter mit Entrüstung selber bemerkt habe: ich meine das Beobachten der Nachbarn durch ein Opernglas. Etwas Niedrigeres und Verächtlicheres kann ich mir kaum denken, als dies förmlich als Sport betriebene Spionieren.

Harmlos und ahnungslos bewegen sich die Menschen in ihren Räumen, kommen und gehen, essen, ruhen, stehen am Fenster, arbeiten – und ahnen nicht, dass hinter dem Fenster der gegenüberliegenden Wohnung irgendjemand – und in diesem Falle sind es fast allerdings nur immer Frauen – seine überflüssige Zeit damit totschlägt, ihr Tun und Leben zu beobachten und darüber Glossen zu machen. Zuweilen werden zu größerem „Amüsement“ auch noch andere Familienmitglieder, sogar Kinder, herbeigerufen und auf die Vorgänge in der fremden Wohnung aufmerksam gemacht. Schade, dass es für solche hinterlistige Spionage keine Polizeistrafen gibt!

Wie entrüstet wären wohl diejenigen, die in so taktloser und niedriger Weise ihre Neugier befriedigen, wenn ihnen Gleiches mit Gleichem vergolten würde. Und denken sie nicht einmal darüber nach, wie sträflich es ist, sogar Kinderseelen auf diese Weise zu vergiften, ihnen heimliches Nachspüren, Schadenfreude, Hinterlist beizubringen – und so mit eigener Hand den Samen zu streuen, aus dem im späteren Leben die Tränenernte für die Mütter aufgeht? Vielleicht hätte beim Nachdenken darüber das Opernglas mehr Ruhe!

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23. Juli 1911